Musik der Romantik

Dieses Thema, das man historisch, ästhetisch oder stilistisch mit Blick auf Kompositionsprinzipien beleuchten könnte, umfasst wesentlich mehr, als man zunächst vermutet, hat doch die Romantik unser Verständnis von Musik nachhaltig geprägt. Es gibt mindestens sieben Gründe, sich heute mit ihr zu befassen:

1. Die Romantik ist die Epoche der Geburt der Musikpresse und des öffentlichen Nachdenkens über Musik. Dabei wird einerseits betont, dass Musik das Unsagbare zum Ausdruck bringe, andererseits wird soviel über Musik geschrieben und publiziert wir kaum je zuvor. Es kommt zu einer engen Verbindung von Musik und Literatur, bis hin zum Künstlerroman.

2. Die Romantik betont in moderner Weise das Individuum und die Subjektivität, Gefühle sind wichtig und werden mitgeteilt. Damit einher geht das Interesse auch an der Biographie von Künstlern und deren Empfindungen, die als Botschaft in der Musik verborgen sein können.

3. Es kommt zu einer Blütezeit des bürgerlichen Musiklebens in den unterschiedlichsten Ausformungen, von der Haus- und Salonmusik über die Gründung von Singakademien bis zum öffentlichen und kommerziellen Konzertbetrieb.

4. Die Musik gewinnt generell an Bedeutung; unter den Künsten wird ihr die Vorreiterrolle als romantischer Kunst beigemessen. Besonders in Deutschland rangiert sie vor Architektur, bildender Kunst und Literatur. Der Komponist wird verehrt als Tondichter, und die Bauweise seiner Werke versucht man zu verstehen.

5. Das kulturelle Bewusstsein entdeckt die Vergangenheit, die Dimension des Historischen: Es kommt zur Mittelalter-Renaissance, zum Interesse an der Musik vergangener Epochen (z.B. Wiederentdeckung von J. S. Bachs Matthäus-Passion, Erscheinen von Werk-Gesamtausgaben).

6. In der Romantik entstehen vielfältige neue Formen, seien sie kurz oder gar fragmentarisch (lyrisches Klavierstück, Charakterstück, Volkslied) oder von großer Dimension (Symphonische Dichtung, Programmsymphonie, große romantische Oper).

7. Damit einher geht eine enorme Entwicklung des Klanges, auch angeregt von Neuerungen im rasch fortschreitenden Instrumentenbau. Man experimentiert mit Instrumentation und Besetzung, mit der Orchester- und Choraufstellung im Raum, die Funktion des Dirigenten wird in ihrer heutigen Form installiert.

Damit hat die Romantik wesentliche Grundlagen dessen geschaffen, was unser Musikverstehen und -erleben ausmacht, ein „Ende der Romantik" ist folglich kaum festzulegen. Ohne diese Basis gäbe es heute weder Musikunterricht in Schulen noch eine Meersburger Sommerakademie.

Die in diesem Jahr erarbeiteten Werke aus einem erheblichen Zeitraum stehen jeweils für eine ganz spezielle Spielart von Romantik:

Ludwig van Beethoven (1770-1827) wurde, nicht zuletzt durch E. T. A. Hoffmann, zum Prototyp des romantischen Künstlers stilisiert - und bis heute gibt es von kaum jemanden so viele Darstellungen in der bildenden Kunst. Seine Ouvertüre c-Moll zu Coriolan op. 62 spiegelt die Rolle des Komponisten, der in neuer Weise musikalisch-politisch Stellung nimmt. Das Trauerspiel Coriolan von Heinrich Joseph von Collin (1771-1811) erlebte seine Uraufführung 1802 im Wiener Burgtheater; es geht zurück auf Plutarchs Lebensbeschreibungen, die auch Shakespeare für seine Tragedy of Coriolanus benutzt hatte. Der Stoff, der noch einen Bertold Brecht zu einer Bearbeitung reizte, muss für jene Generation, die die französische Revolution, den ersten Consul Bonaparte und späteren Kaiser Napoleon sowie die gewaltigen Kriegswirren in Europa miterlebt hat, eine besondere Aktualität besessen haben. In der Fassung von Collin geht es vorrangig um die Darstellung des stets von der Gefahr der Anmaßung bedrohten Heldentums: Coriolan, der siegreiche Feldherr, steht unter Anklage, weil er den Willen des Volkes missachtet hat. Voller Hass wendet er sich gegen Rom, gegen das Vaterland, zerbricht schließlich an seinen inneren Zweifeln und setzt seinem Leben ein Ende: Der gescheiterte Held stürzt sich in sein Schwert. Als Gegenpol zu Coriolan treten zwei Frauen (seine Mutter und seine Frau) auf, die als Bittstellerinnen den Verblendeten zu Frieden und Umkehr zu bewegen versuchen.

Einige Besonderheiten der Komposition lassen Verbindungen zum Drama zu:  Die Ouverture steht in der Tonart c-Moll, ebenso wie die zur gleichen Zeit entstandene 5. Symphonie, die in ihrer Rezeptionsgeschichte mit Schicksal und Revolution verbunden wurde. Zu Beginn erklingt ein durch Pausen unterbrochener Wechsel von schneidenden Unisoni der Streicher und abgerissenen Tutti-Schlägen, wie sie auch in der Eroica begegnen. Diese große Geste weicht einer drängenden und ruhelosen Bewegung als weiterem Zug des herrischen Coriolan. Das zweite Thema, eine lyrische Kantilene, kann für die Frauen stehen. Die Art und Weise, wie dieses Material verarbeitet wird, ist zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Sonatensatz und den Möglichkeiten kontrastierender Themen. Am Ende findet sich nicht - wie sonst häufig bei Beethoven - ein fulminanter Schluss, sondern das Coriolan-Thema strebt seinem eigenen Ende zu,  es verlöscht in der Negation.

Beethoven komponierte die dem Dichter gewidmete Ouverture im Frühjahr 1807, sie ist daher keineswegs als Gelegenheitskomposition für eine Theaterpremiere zu sehen. Collins Drama wurde in Wien zwischen 1802 und 1805, mit Mozarts Schwager Joseph Lange in der Titelrolle, häufig gegeben. Lediglich bei einer Aufführung im April 1807 könnte Beethovens Musik als Theaterouverture aufgeführt worden sein. Man mag das Werk als einen wesentlichen Schritt hin zur symphonischen Programmusik begreifen; in den Begriffen der Zeit handelt es sich um eine „charakteristische Ouverture", die,  so J. N. Forkel, „den Charakter des Innhalts der folgenden Handlung im Allgemeinen anzeigen" sollte.

Die „Unvollendete" D 759 von Franz Schubert (1797-1828) hat schon durch ihren fragmentarischen Charakter (ähnlich wie Mozarts Requiem) die romantischen Gemüter erregt. Schuberts eigenhändige Reinschrift verzeichnet zu Beginn „Wien, den 30. Octob. 1822". Vollständig ausgeführt sind indessen nur der erste und der zweite Satz; vom dritten Satz existieren nur zwanzig Takte. Den heute gängigen Titel hat das Werk erst 1867 bei der Erstveröffentlichung erhalten, als es mit „Zwei Sätze der unvollendeten Sinfonie (in H moll)" betitelt wurde. Es ist ungewöhnlich, dass ein unfertiges Werk auf dem Titelblatt datiert wurde, und so gab es rasch Spekulationen, wonach Schubert absichtlich ein Fragment habe schaffen wollen (schließlich schuf man in der Romantik auch Burg-Ruinen). Nach heutigem Forschungstand ist Schubert mitten in der Arbeit durch einen lukrativen Kompositionsauftrag (die Wandererfantasie D 760) unterbrochen worden und hat die Arbeit später nicht mehr fortgesetzt - das wäre kein Einzelfall in seinem Œuvre. Die ältere Numerierung zählte die „Unvollendete" noch als Sinfonie Nr. 8. Im Deutsch-Verzeichnis wurde sie indessen, der Chronologie folgend, als Nr. 7 zwischen die Sinfonie Nr. 6 D 589 und die so genannte Große C-Dur-Sinfonie Nr. 8 D 944 eingereiht.

Die Klarinette war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Orchesterklang vorwiegend ein Füll-Instrument der Bläsergruppe und spielte unisono mit anderen Instrumenten. Erst Wolfgang Amadé Mozart, angeregt durch den Klarinettisten Anton Stadler, machte sie zum konzertierenden Soloinstrument. Für Carl Maria von Weber (1786-1826) entscheidend war die Begegnung 1811 in München mit Heinrich Bärmann (1784-1847), dem bedeutendsten Klarinetten-Virtuosen seiner Zeit. Für ihn schrieb er binnen kaum zwei Wochen das Concertino für Klarinette und Orchester Es-Dur op. 26 und setzte damit neue Maßstäbe. Als königliche Auftragswerke folgten daraufhin noch im selben Jahr 1811 die beiden Klarinettenkonzerte Nr. 1 in f-Moll op. 73 und Nr. 2 in Es-Dur op. 74.

Bei vielen Komponisten der Romantik, auch im Opernorchester, ist die Klarinette, vergleichbar der Oboe der Barockzeit, das Instrument für gesangliche, intime Passagen - man denke nur an Felix Mendelssohn Bartholdy, Richard Wagner, Robert Schumann oder Richard Strauss. Die Vielfalt ihrer Klangfarben steht für ein neues, romantisches Klangideal. Johannes Brahms (1833-1897) verwendete die Klarinette besonders in der Kammermusik, etwa im Trio für Klavier, Klarinette (Viola) und Violoncello in a-Moll, op. 114 (1891), in den beiden Sonaten für Klarinette und Klavier in f-Moll und Es-Dur op. 120 (1894) oder in größerer Besetzung im Quintett h-Moll für Klarinette, zwei Violinen, Bratsche und Violoncello in h-Moll op. 115 (1891), das im Kammerkonzert zu hören ist.

Die Romantik entdeckte auf neue Weise den Gesang, sei er einstimmig oder mehrstimmig, solistisch besetzt oder für große Chöre, vom Klavier oder Orchester begleitet oder a cappella. Man interessierte sich für das Volkslied und damit für die Wurzeln der nationalen Kultur.  Poesie und Musik verbanden sich zur neuen Gattung des Kunstliedes, das bis weit ins 20. Jahrhundert als romantisches Genre seine Blütezeit erleben sollte.

Im Serenadenkonzert erklingt eine repräsentative Auswahl von Chorsätzen, die Liebesglück und Liebesleid, Sehnsucht nach Heimat und Frieden, aber auch die Natur mit Abend- und Nachtstimmungen zum Inhalt haben. Das kollektive Ich der Chorsängerinnen und -sänger formuliert dabei eine kunstvoll chiffrierte Weltsicht, die weit mehr ist als die romantischen Gesangstexte vordergründig auszusagen vermögen.

Ein deutsches Requiem nach Worten der Heiligen Schrift für Soli, Chor und Orchester (Orgel ad libitum) op. 45 von Johannes Brahms knüpft an eine der ältesten Formen katholischer Kirchenmusik an, doch wird die lateinische Missa pro defunctis (deren Kenntnis vorausgesetzt werden darf) ganz anders interpretiert. Sie erhält gleichsam ein neues, protestantisches und deutsches Gewand und vertritt eine gänzlich andere Position zum Thema des Todes: Hier ist nicht die Rede von den Schrecken des Jüngsten Gerichts; es gibt keine Fürbitte, dass die Hölle die Seelen der Verstorbenen nicht verschlinge, sondern ihnen die Gnade ewiger Ruhe und ewigen Lichtes zuteil werde. Brahms' Requiem hat keinen konkreten Trauerfall zum Anlass, auch wenn der Tod von Robert Schumann 1856 einen ersten Anstoß gegeben haben mag. Das Werk ist somit keine Totenmesse, sondern ein Werk für die Lebenden. Es erinnert an die Vergänglichkeit, ist jedoch vor allem eine musikalische Meditation über das Sein des Menschen. Die Texte hat der ausgesprochen bibelfeste Komponist selbst zusammengestellt und 1861 notiert. Sie sind eine kunstvolle Collage aus verschiedenen Büchern des Alten Testaments einschließlich der Psalmen und des Neuen Testaments (Evangelien, Briefe des Petrus, Paulus und Jakobus, Offenbarung des Johannes). Anfang und Ende des Werkes sind eher Seligpreisungen als eine Trauermusik und scheinen auf César Francks „Les Béatitudes" (1879) voraus zu weisen, Ein dramatischer Höhepunkt ist der als Trauermarsch angelegte zweite Satz („Denn alles Fleisch, es ist wie Gras"), der nicht zufällig an jener Stelle steht, an der  im Requiem die Sequenz „Dies Irae" erwartet wird. Trauermärsche sind seit der französischen Revolution ein wesentliches kompositorisches Element, bis hin zu Symphonie-Sätzen und Opernszenen; hier zeigt sich Meisterschaft in der Instrumentation und der Kalkulation großer Spannungsbögen bei gleich bleibendem rhythmischem Duktus.

Der  Kompositionsprozess, unter dem Eindruck des Todes von Brahms' Mutter 1865 erst recht persönlich motiviert, folgte nicht der Satzchronologie. Eine interpretatorisch missglückte Aufführung der ersten drei Sätze erfolgte am 1. Dezember 1867 in einem Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Am Karfreitag des Jahres 1868 erlebte das Werk seine erfolgreiche Uraufführung im Bremer Dom -  damals noch in sechs Teilen. Erst anschließend komponierte Brahms den  später eingeschobenen fünften Teil („Ihr habt nun Traurigkeit"), der bereits im Erstdruck der Partitur (November 1868) enthalten ist. Die erste Aufführung des vollendeten, nun siebenteiligen Opus geschah im Leipziger Gewandhaus am 18. Februar 1869. Damit war das Werk von Beginn an in der Kirche und im Konzertsaal beheimatet;  es wurde gattungsgeschichtlich sowohl mit der Tradition der protestantischen Motette als auch mit dem Oratorium nach Vorbild Händels in Verbindung gebracht. Mit Brahms' erst viertem Orchesterwerk (nach den Serenaden op. 11 und op. 16 und dem Klavierkonzert op. 15) entstand ein Meisterwerk neuer Dimension. Der Komponist wurde über Nacht berühmt und frei für Neues - auch für Werke wie seine 1876 beendete Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68, die im Finale einen Choral einbezieht und als „Beethovens Zehnte" verstanden wurde.

Romantisch im deutschen Requiem ist gewiss das hohe Maß an Subjektivität bei der Gestaltung: Der Gedanke an den Erlösungstod Christi ist ausgeblendet, Jesus wird mit keinem Wort erwähnt. Der Protestant Brahms nimmt sich die auch künstlerische Freiheit, die „Worte der Heiligen Schrift" auf seine Weise zu interpretieren und zu komponieren.  Das Resultat ist ein Werk, das bis heute bewegt und Trost gibt denen, „die da Leid tragen": Eine ausdrucksstarke und kraftvolle Musik für die Lebenden - Interpreten und Zuhörer.

Beate Angelika Kraus

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