Fortsetzung:
Als der große Pionier der Volksmusikforschung muss Béla Bartók genannt werden. Seine bahnbrechende Arbeit Das ungarische Volkslied machte ihn zum Begründer der modernen Musikethnologie. Unermüdlich reiste er durch Südosteuropa und über den gesamten Balkan bis in die Türkei und nach Nordafrika, um die dortige Volksmusik festzuhalten — eine Arbeit, der er später eine entsprechende Professur in den USA verdanken sollte. Die von ihm und Zoltán Kodály mit dem Edison Phonographen gemachten frühesten Aufnahmen von Volksmusik zählen bis heute zu den wichtigsten Dokumenten. Der rhythmische und melodische Reichtum dieser Musikkulturen, die so ganz anders waren als die traditionelle europäische Kunstmusik, blieb für viele Komponisten ein Anreiz zur künstlerischen Auseinandersetzung: Von Bartók, einem der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, erklingen auf der Meersburger Sommerakademie aus dem Jahre 1917 Vier slowakische Volkslieder und Rumänische Volkstänze. Die slowakischen Volkslieder für gemischten Chor und Klavier hat Bartok sogar konkreten Orten zugeordnet: 1. Hochzeitslied aus Poniky, 2. Heuernte-Lied aus Hiadel, 3. Aus Medzibrod und 4. Tanzlied aus Poniky. Betrachtet man insgesamt die verschiedenen Strömungen in der Musikgeschichte hin zur Moderne, dann bedeutete diese Inspiration durch fremdes Tonmaterial, das eben nicht der dur-moll-tonalen Musiktheorie gehorchte und auch rhythmisch extrem komplexe Formen aufwies, einen ganz wesentlichen Impuls. Andere Komponisten dieser Zeit interessierten sich für nicht-europäischen Exotismus, etwa indonesische Gamelanmusik oder Jazz und Ragtime. Jo Knümann, Ferenc Farkas oder Denes Agay als Komponisten unserer Epoche zeigen, dass Südosteuropa als musikalische Inspirationsquelle noch keineswegs versiegt ist.
Der Rumäne George Enescu gehörte wie viele der hier genannten Komponisten zu den Grenzgängern zwischen den Kulturen: Studiert hatte er zunächst in Wien, wo er Brahms persönlich begegnete und dann am Pariser Conservatoire (in Frankreich nannte er sich Georges Enesco; unter seinen Mitschülern waren Maurice Ravel, Charles Koechlin und Florent Schmitt). Er wurde einer der bedeutendsten Geiger seiner Zeit und später der Lehrer von Yehudi Menuhin. Allerdings machte er sich auch als Pianist, Dirigent und Komponist einen Namen. Seine Rumänischen Rhapsodien op. 11 aus dem Jahre 1901 zählen zu denjenigen Werken, die bereits im Titel an seine moldawischen Wurzeln anknüpfen. Allerdings wurde ihre große Popularität bisweilen selbst Enesco unangenehm, verstellt sie doch leicht den Blick auf die Vielfalt seines Oeuvres.
Einen Sonderfall in der musikalischen Kultur Südosteuropas stellt die Zigeunermusik dar. War der Ausdruck "Zigeuner" im 18. und 19. Jahrhundert zunächst ein polizeilicher Ordnungsbegriff mit durchaus diskriminierendem Charakter, so entwickelte sich im 19. Jahrhundert zunehmend eine romantisch verklärende Sicht auf ein fahrendes stolzes Volk, das ein freies Bohème-Leben führen würde. Exotische schöne Zigeunerinnen wurden zum Topos in der Literatur und auf der Opernbühne. Da auf dem Balkan und auch in den Städten des Habsburgerreiches Zigeunerkapellen und virtuose Zigeunergeiger wesentlich das Musikleben bereicherten, wurde fälschlicherweise ungarische Musik mit Zigeunermusik gleichgesetzt. Franz Liszt ging so weit, in seiner Schrift Des Bohemiens et de leur musique en Hongrie (Über die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn) 1959 die Zigeunermusik zur Grundlage eines ungarischen musikalischen Nationalepos zu erheben. Später setzte sich Béla Bartók intensiv wissenschaftlich mit diesem Problem auseinander und definierte die Volks- und Bauernmusik des Balkans neu.
Das Klischee vom feurigen Zigeuner hatte indessen einen so durchschlagenden Erfolg in der österreichischen Operette, dass niemand mehr nach kulturhistorischer Korrektheit fragte. Der Zigeunerbaron von Johann Strauß (die Titelfigur ist ein ungarischer Baron und kein Zigeuner!) als Typus des aufbrausenden freiheitsliebenden Außenseiters wurde ungeheuer populär. Weitere Komponisten folgten diesem Erfolgsmodell, darunter Emmerich Kálmán (eigentlich Imre Koppstein) mit seiner 1915 im Johann-Strauß-Theater in Wien uraufgeführten Operette Die Czárdásfürstin, die es mit zahlreichen Filmadaptationen bis in die Kinos brachte. Franz Lehár hatte nach seinem Welterfolg mit Die lustige Witwe (1905) versucht, die große dramatische Opernform mit schwungvollen Wiener Walzern und ungarischem Kolorit zu verschmelzen; seine neue Operette Zigeunerliebe feierte Anfang Januar 1910 im Theater an der Wien Premiere. Auch in anderen Formen der Unterhaltungsmusik wurden virtuose Nummern mit einem gewissen volkstümlichen Zigeuner-Kolorit zum Publikumsmagnet. Indem diese der 'leichten Muse' huldigenden Werke ebenso auf dem Programm stehen wie große 'ernste' Kompositionen, stellt sich die Frage nach Qualität in Abstimmung auf kulturelle Handlungsorte. Das ist ein aktuelles Thema, das uns auch heute beschäftigt, wenn es darum geht, gleichermaßen Zugangswege zu klassischer Musik und Pop-Kultur zu vermitteln.
Beate Angelika Kraus